Talkrunde in Bocholt wirbt am 'Tag der Muttersprache' für Herkunftssprachlichen Unterricht an Schulen
Mehrere Sprachen zu verstehen und sprechen zu können, ist vergleichbar mit einem 'Schatz', den es zu fördern gilt. Darin waren sich jetzt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Diskussionsrunde einig, die am 'Tag der Muttersprache' im Bocholter Textilwerk zusammenkam. Der Tag ist von der UNESCO zur ?Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit? ausgerufen worden.
Über 80 Gäste waren der Einladung von Bürgermeister Thomas Kerkhoff und Juan Lopez Casanava, Vorsitzender des Bocholter Integrationsrates, gefolgt.
Der Arbeitskreis „Ankommen und Bleiben“ hatte die Idee einer solchen Veranstaltung entwickelt, um vor allem die Bedeutung des Herkunftssprachlichen Unterrichts (HSU) für die Entwicklung von Kindern mit internationaler Familiengeschichte herauszuheben. „Wir haben neben allen Bocholter Schulen auch die Kindergärten und den Rat eingeladen, um sie für das Thema weiter zu sensibilisieren“, sagte Bruno Wansing, Integrationsbeauftragter der Stadt Bocholt, der die Veranstaltung gemeinsam mit dem Arbeitskreis und der Volkshochschule Bocholt-Rhede-Isselburg organisiert hatte.
Nach einer Gedenkminute für die Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien begann Moderator Raimund Stroick die Interviews - zunächt auf plattdeutsch. „Kiek es an, usse Bürgermeester kun platt kürn“, witzelte Stroick richtung Bürgermeister Kerkhoff. Der erwiderte: „Ich verstehe zwar alles, für das Sprechen bin ich aber eine Generation zu spät dran.“ Er betonte im weiteren Gespräch, dass die Muttersprache eine immense Bedeutung habe und der Integrationsrat, Integrationsbüro und der Arbeitskreis mit dieser Veranstaltung einen Nerv getroffen habe. „Wir sind hier so was von multikulturell besetzt, das finde ich toll.“
Sprachfaule Deutsche?
Als 'sprachfaul' wolle er die Deutschen nur bedingt bezeichnen. „Wir lassen uns nur schnell den Schneid abkaufen“, betonte Kerkhoff. Während andere Nationen, wenn sie eine Fremdsprache erlernen, 'einfach drauf lossprechen' würden, hätte 'der Deutsche Angst und Sorge, Fehler zu machen'.
„Wenn Kolleginnen und Kollegen mehrere Sprachen sprechen, hilft uns das in dieser schnelllebigen Welt natürlich weiter“, führte Kerkhoff aus und kündigte an, dass er die Sprachkompetenz in der Stadtverwaltung ermitteln wolle. „Das werden wir mit einem Projekt an der Hochschule für Polizei und Öffentliche Verwaltung Münster in Angriff nehmen, da bin ich in stetigem Kontakt mit dem Integrationsrat.“
Neben Kerkhoff bekamen die anderen Podiumsmitglieder Juan Lopez Casanava, Dr. Isabelle Mathe, Prof. Dr. Anja Wildemann und Teuta Dervishi anschließend die Gelegenheit, in 60 Sekunden ihre eigene Sicht zum Thema Muttersprache bzw. Mehrsprachigkeit darzulegen.
Während Juan Lopez Casanava die Potenziale der Mehrsprachigkeit nutzen und nicht über Defizite sprechen möchte, ist für Dr. Isabelle Mathe die Mehrsprachigkeit eine Herzensangelegenheit: „Das Kapital der Sprachen bringt die Gesellschaft weiter. Sprache ist die Basis für Kommunikation und ein friedliches Zusammenleben, ich wünsche mir Kommunikation, Mehrsprachigkeit, Austausch.“ Thomas Kerkhoff sprach von einem „Geschenk der zweiten Sprache“. Er habe das selber bei Freunden erleben dürfen, deren Kinder zweisprachig aufwachsen würden. „Das ist ein Geschenk, diesen Schatz müssen wir fördern.“
Prof. Dr. Anja Wildemann wünscht sich, dass sich die Lehrkräfte trauen, Sprachen im Unterricht zu nutzen. „Davon profitieren sowohl die Ein- als auch die Mehrsprachigen.“ Der HSU-Lehrerin Teuta Dervishi, die albanisch unterrichtet, liegt die Muttersprache ebenfalls am Herzen. „Ich bringe den Kindern ihre Muttersprache bei, da geht es mir um Wertschätzung und Bereicherung.“
Deutsch Voraussetzung für Integration?
Juan Lopez Casanava ist spanischer Deutscher, mit einer Italienerin verheiratet und mit zwei Töchtern gesegnet, die einen italienischen, spanischen und deutschen Pass haben. Oft werde gesagt, die deutsche Sprache sei Voraussetzung für eine gelungene Integration. „Das ist zu kurz gefasst“, betont Lopez Casanava. „Kinder, die ihre Herkunftssprache nicht sprechen, lesen und schreiben können, lernen auch die deutsche Sprache nicht richtig.“ Es sei wichtig, die eigene Kultur zu kennen und anzuerkennen. „Wenn das nicht der Fall ist, gibt es auch Probleme mit der „neuen“ Kultur und es kann sich erst gar kein Verständnis für kulturelle Unterschiede entwickeln.“ Die Muttersprache könne im Ganzen auch nur im Unterricht erlernt werden. „Deutsch lerne ich ja auch im Unterricht“, so Lopez Casanava. „Hier müssen wir die richtige Ansprache an die Eltern finden und ihnen die Bedeutung des Herkunftssprachlichen Unterrichts klar machen.“ Bei der Abfragesystematik müsse auf jeden Fall nachgearbeitet werden. „Es geht ja nicht nur darum, das Abfrageschreiben online zur Verfügung zu stellen. Ich bin der Meinung, dass die Eltern direkt angesprochen werden müssen und wir die Verantwortung nicht auf die Lehrerinnen und Lehrer abwälzen dürfen.“
Sprache ist 'ein Brückenschlag'
Dr. Isabelle Mathe ist sich sicher, dass durch Sprache mehr Bürgernähe erzeugt werden kann. „Sprache ist wie ein Brückenschlag zwischen den Kulturen“, so Isabelle Mathe. Dabei sei die Sprache mächtig und diese Macht etwas Positives: „Das gilt allerdings nur, wenn die Werthaltung dahinter auch positiv ist“, betont Mathe. Reine, nonverbale Kommunikation sei zu wenig. Stroick berichtete von einem Erlebnis im Nachbarland, als deutsche und niederländische Kinder durcheinander in Deutsch, Englisch und Niederländisch sprachen, einfach so und schloss dann gleich die Frage an, was den Kindern zuzutrauen sei. „Das Zutrauen zu den Kindern ist so wichtig, allerdings mit Struktur und Begleitung. Ich muss die Sprache nicht nur sprechen, sondern auch lesen und schreiben können, das ist dann der Booster“, betonte Mathe. Der Herkunftssprachliche Unterricht sei die Methode, die zeige, was ich geleistet habe. Hier gelte es, die Kapazitäten auszuweiten. „Zudem ist es wichtig, dass alle Beteiligten so viele Informationen wie möglich bekommen, umso besser wird das Ergebnis und am Ende ist es ein Reichtum für uns alle, für die Gesellschaft und für den Frieden“, ist sich Mathe sicher. Durch den Herkunftssprachlichen Unterricht werde auch die Lösungsbegabung der Kinder gefördert, so wie Universitäts-Professor Dr. Markus Hengstschläger den Begriff geprägt habe. „Dadurch entsteht eine Breite in der Ausbildung, die für die Gesamtgesellschaft sehr bedeutend ist“, so Mathe abschließend.
Unüberwindbare Hürden abschaffen
Bürgermeister Thomas Kerkhoff sprach von der „Sprache als sein Handwerkszeug. Gerade wir Juristen legen großen Wert auf Formulierungen, ich finde die Varianz der deutschen Sprache fantastisch.“ Die Systematik seines großen Latinums habe ihm beim Erlernen anderer Sprachen geholfen. Er habe vor allem Achtung vor den Menschen, die fließend von einer in die andere Sprache wechseln könnten.
Beim Herkunftssprachlichen Unterricht sollten auch Kinder überzeugt werden, eine andere als ihre Herkunftssprache zu lernen. Die Angebote des HSU müssten bekannter gemacht werden, so Kerkhoff. „Vielleicht könnte man das Anmeldeverfahren ja vereinfachen, in dem man es digitalisiert. Hier sollten wir ganz schnell unüberwindbare Hürden abschaffen.“ Auch bei der Zulassung von Lehrerinnen und Lehrern aus anderen Ländern solle es ein Umdenken geben. „Muss es immer das deutsche Staatsexamen sein oder kann man die Hürden heruntersetzen, um das Angebot des HSU ausweiten zu können?“, fragte Kerkhoff.
Prof. Dr. Anja Wildemann referiert und forscht an der Rheinland-Pfälzischen, technischen Universität Kaiserslautern-Landau und beschäftigt sich mit grundschulpädagogischer Forschung mit dem Schwerpunkt Sprachbildung. „Die Vielfalt der Sprache kann man auch im Regelunterricht einsetzen, und da geht es nicht nur um die sogenannten Elitesprachen englisch, französisch, sondern um alle“, sagte Wildemann. Integration dürfe nicht einseitig gesehen werden, sondern wechselseitig. „Zu oft haben viele die Defizitbrille auf und das Positive wird zu wenig gesehen“, weiß Wildemann. Sie tritt für eine Verständigung zwischen dem HSU, dem Deutsch- und dem Fremdsprachenunterricht ein. Verbessert werden müssten auch die Rahmenbedingungen des HSU. Sie möchte die Lehrkräfte ermutigen, sich was zu trauen und im Unterricht einfach mehrere Sprachen einzusetzen. „Wir forschen nicht um des Forschens Willen, sondern um die Ergebnisse auch weiterzutragen in das Studium angehender Lehrkräfte.“ Sie wünscht sich weiter, dass mehr Geld in Bildung gesteckt werde, das Ganze auf viel größere Beine gestellt werde und immer wissenschaftlich begleitet werde. Der zweite und vielleicht wichtigste Wunsch sei, etwas zu wagen. „Es gibt viele tolle Ideen, die sollten wir dann auch entsprechend unterstützen.“
Nach dem sechsten Lebensjahr wird es schwerer
„Wir können den Kindern sehr, sehr viel zumuten“, betont Wildemann. Neurolinguistische Studien zeigten, dass es Kindern bis zum sechsten Lebensjahr leichtfällt, Sprachen zu lernen bzw. sich diese anzueignen. „Danach wird es schwerer. Deswegen wäre es wichtig, so früh wie möglich, mit einer zweiten oder dritten Sprache zu beginnen und das Niveau zu akzeptieren.“
Viele Kinder verloren
An der Wurzel arbeitet Teuta Dervishi. Sie ist HSU-Lehrerin für die albanische Sprache. Integration ist für sie, wenn man die eigene Kultur behält, die neue Kultur erlernt und beide wertschätzt. Durch den HSU lernen die Kinder zusätzlich zum reinen Sprechen auch noch das Lesen und Schreiben. „Das ist ein Schatz, den wir noch viel mehr fördern müssen“, sagt Teuta Dervishi. Für sie sei es im Unterricht oft schwierig, die Balance zu halten, wenn sie gemischte Gruppen mit unterschiedlichsten Kenntnissen unterrichtet. „Ich versuche immer, den Spaß zu behalten, auch wenn es der Nachmittagsunterricht ist.“
Viele Kinder seien verloren, weil sie zwar sprechen, nicht aber lesen und schreiben könnten, weil das schulische Wissen einfach fehle. Dabei sei der HSU in Deutschland ein tolles Angebot. „Diese drei Stunden in der Woche sollte man nutzen, in anderen Ländern muss dafür extra gezahlt werden.“ Die Sprache zu Hause zu lernen, reiche nicht. „Da fehlen dann der Wortschatz, die Grammatik und auch die sozialen Kontakte“, betont Dervishi. „Eigentlich ist der HSU ein Segen, nur ist das vielen einfach nicht bewusst.“ Sie wünscht sich Hilfe in der Unterrichtsgestaltung und die gleiche Fortbildung für HSU-Lehrer, die auch Lehrer an Schulen bekommen würden.
Die anschließende Diskussion war offen, provokant und auch emotional. Insbesondere ging es um die Wertschätzung der Sprache für die Identität eines Menschen, sprachliche Ressourcen zu nutzen und das Ganze als gesamtgesellschaftliches Thema anzugehen. Einsprachigkeit ist ein Mythos und Mehrsprachigkeit ist der Normalfall, seien es dialekte wie das 'Bokeltse Platt' oder andere regionale Besonderheiten der Sprache. Hier spiele eben nicht nur die Herkunft eine Rolle. Eine junge Frau im Publikum gab Auskunft darüber, dass sie mehrsprachig ist, da sie einige Jahre in unterschiedlichen Ländern zur Schule gegangen sei und sie diese Mehrsprachigkeit in ihrem Berufsalltag als Ärztin sehr zu schätzen wisse. Maria Störzer fehlte bei dem gesamten organisatorischen Verfahren der HSU-Anmeldung die Rückmeldung der Bezirksregierung, des Schulamtes, wie groß das Interesse bei den verschiedenen Sprachen sei: „Wenn ich den Eltern nicht sagen kann, wie viele sich zum HSU in der betreffenden Sprache angemeldet haben, sinkt das Interesse, die Eltern sind frustriert, die Lehrer auch.“
Kritisiert wurde auch, dass die Note im HSU auf dem Zeugnis unter „Bemerkungen“ auftauche und nicht als eigenständige Note. Zudem gebe es in den Schulen eine Vielzahl von Herkunftsnationalitäten, und nur für einen Teil würde HSU angeboten. Jan-Bernd Lepping, Leiter des Euregio-Gymnasiums, forderte, offensiver dafür zu werben, dass auch Menschen mit internationaler Familiengeschichte den Beruf des Lehrers, der Lehrerin in Angriff nähmen. Bei ihm gebe es nur eine Lehrerin mit einer solchen Familiengeschichte.